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Titel
Übergangsräume. Deutsche Lazarette im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Enzensberger, Alina
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Fehlemann, Institut für Neuere und Neueste Geschichte, Technische Universität Dresden

Das Lazarett im Ersten Weltkrieg war eine vielfach aufgeladene und höchst unterschiedlich gestaltete Einrichtung. Insofern ist es eigentlich erstaunlich, dass bisher noch keine Gesamtdarstellung zu diesem Thema vorlag. Alina Enzensbergers Buch über deutsche (Heimat-)Lazarette, das auf ihrer Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin beruht, hat aber nicht nur aus diesem Grund das Zeug zu einem Standardwerk, sondern auch, weil sie das deutsche Lazarettwesen unter der Leitkategorie des Übergangsraums sehr überzeugend in einer konsequent kultur- beziehungsweise raumhistorischen Perspektive beschreibt. Versiert führt sie neue Aspekte aus dem Lazarettalltag mit bekannten Forschungen zusammen und entwirft insgesamt ein komplexes Bild des Heimatlazarettes, in dem ziviles und soldatisches Leben, Krieg und Frieden, männliche und weibliche kodierte Lebenswelten, Arbeitermilieu und bürgerliche Kultur und vieles andere „in einer Welt voller Widersprüche“ (S. 350) aufeinandertrafen und ineinander übergingen. Ihr Quellenmaterial ist umfangreich. Sie verwendet neben Verwaltungsdokumenten aus Archiven auch zahlreiche Selbstzeugnisse wie etwa Briefe und soldatische Tagebücher.

Das Buch ist in vier große Untersuchungsabschnitte aufgeteilt. Im ersten Teil liefert die Verfasserin einen Überblick über die verschiedenen Lazarettformen und deren Organisation, dabei geht es auch um die Aufgaben, die zivile Akteur:innen im Lazarett einnahmen (1), es folgt eine Analyse des Lazaretts als medizinischer „Raum der Wiederherstellung“ (2). Anschließend wird der soldatische Erfahrungsraum des Lazaretts untersucht (3) und zuletzt folgt noch eine weitere Untersuchung des Lazaretts als „umkämpfter Raum“ (4), in dem sowohl „deutsche Kultur“ gegenüber der Außenwelt repräsentiert als auch der „Durchhaltewille“ der Soldaten in Frage gestellt wurden.

Enzensberger erfasst mit ihrem Ansatz enorm viele Aspekte des Kontaktraums Lazarett. Mit diesem Befund geht allerdings auch eine kleine Schwäche des Buches einher. Die Verfasserin entwirft ein ungemein facettenreiches Bild des Heimatlazarettes, aber die Darstellung beschreibt eher ein Panorama, als dass sie eine These verfolgt. Dieser Ansatz entspringt aber wohl dem komplexen und vielgestaltigen Untersuchungsgegenstand. Das wichtigste Ergebnis der vorliegenden Untersuchung besteht wohl in der Erkenntnis, dass das Lazarett durchaus einen für die Soldaten positiv besetzten Raum und einen Sehnsuchtsort darstellen konnte. Dies ist eine These, die im Gegensatz zu gängigen Narrativen wie etwa im Roman „Im Westen nichts Neues“ oder zu den Berichten von vollkommen überlasteten Ärzten und Schwestern in den Feldlazaretten wie etwa in Vera Brittains „Testament of Youth“, steht. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es bei Enzensberger fast ausschließlich um Heimatlazarette geht, die unter deutlich weniger situativem Druck standen und über mehr Organisations- und Planungsmöglichkeiten verfügten. Insofern ist die Betonung des (Heimat-)Lazaretts als Sehnsuchts- und Möglichkeitsraums in dieser Hinsicht nicht völlig überraschend. Doch zu den Ergebnissen im Einzelnen:

Heimatlazarette waren vor allem im ersten Kriegsjahr zahlreichen Anpassungsprozessen unterworfen. Hier konnte und wollte die Heimatgesellschaft sehen, „wie der Krieg war“ und sich an den Kriegsanstrengungen beteiligen. Sie engagierte sich als Lazarettverwalter, wie am Beispiel des Soziologen Max Webers ausgeführt wird oder in Form von wohltätiger Krankenfürsorge, die vor allem von bürgerlichen Frauen durchgeführt wurde. Die Sanitätsverwaltung war auf dieses zivile Engagement und auch auf das Geld aus der Heimat angewiesen, ihre Vertreter zeigten sich aber auch bestrebt, die Kontrolle zu behalten. Das wurde vor allem durch die „Wiederherstellungsregime“ deutlich, denn hier ging es in erster Linie um das Wiedererlangen der Kampffähigkeit. Im Lazarett wurde nicht in erster Linie geheilt, sondern wieder wehrdienstfähig gemacht, häufig auch gegen den Willen der Soldaten. Der Widerspruch zwischen dem hippokratischen Eid und den Erfordernissen der Wehrmedizin wird hier besonders offensichtlich. Im Gegensatz zu bisherigen Forschungen betont die Verfasserin aber auch, dass Soldaten bei großen und existenziellen Eingriffen vereinzelt durchaus ein Widerspruchsrecht besaßen. Darüber hinaus entwickelte sich das Lazarett aber auch zu einem Labor neuer Therapien und Wiedereingliederungsmaßnahmen für Kriegsinvaliden.

Enzensberger macht deutlich, dass das Lazarett zur elementaren Kriegserfahrung der Soldaten gehörte, kam doch durchschnittlich knapp jeder dritte Soldat ins Lazarett. Sie konnten das Lazarett aber nicht nur als Fürsorge-, sondern auch als Kontrollraum und Leidensstätte erleben. Die verschiedenen Lazaretterfahrungen waren vielfältig und äußerst individuell. Insofern passt der Analysebegriff des Übergangsraums in besonderer Weise. Hier erlebten die Soldaten Übergänge und Kontakte zwischen Krieg und Heimat, zwischen Versehrt-sein und Unversehrt-sein sowie zwischen verschiedenen Schichten und im Hinblick auf die erkrankten Kriegsgefangenen sogar den Kontakt zum Feind. Enzensberger macht aber deutlich, dass bei aller unterschiedlicher Erfahrung von leicht erkrankten und schwerverletzten Soldaten das Lazarett auch einen strukturell ähnlichen Sozialraum – einen „Mikrokosmos“ mit eigenen Verhaltensregeln und eigener Sprache – darstellte. Dabei bildete das Lazarett einen Möglichkeitsraum für viele Akteure. Bürgerliche Frauen konnten hier öffentlich tätig sein, ohne Geschlechterregime zu verletzen, Ärzte konnten neue Therapien und Operationstechniken ausprobieren und die Patienten konnten wieder mit der Lebensweise der Heimat in Kontakt kommen.

Enzensbergers Ergebnisse zeigen, dass die Erweiterung der Perspektive auf das Lazarett als Ganzes über die sogenannten Kriegsneurotiker hinaus den Blick dafür schärft, dass das Lazarett auch für die Soldaten einen Möglichkeitsraum mit zahlreichen Chancen, Kontakten und Perspektive bot und eben nicht nur ein medizinisches Gewaltregime. Auch die neuere medizinhistorische Forschung hat in den letzten Jahren darauf hingewiesen, dass die gewaltförmige Behandlung der sogenannten Kriegsneurotiker wie etwa durch die sogenannte „Kaufmann-Kur“ in vielen Lazaretten praktisch nicht umgesetzt wurde, sondern vielmehr eine experimentelle Form der Behandlung war, die nicht als Breitenphänomen verstanden werden sollte. Ein weiterer Verdienst der Studie besteht in der Berücksichtigung der zeitlichen Dimension und Dynamik. War man zu Beginn durchaus bestrebt, die Lazarette als fürsorgliche Repräsentationsräume zu zeigen, radikalisierte sich der Ansatz im Verlauf des Krieges immer mehr. Lazarette wurden nun vermehrt zu Räumen des Misstrauens. Aufgrund der Kriegslage sahen sich die Militärärzte zunehmend genötigt, verletzte und erkrankte Soldaten vorzeitig wieder an die Front zu entlassen und zogen damit auch den Missmut der Zivilbevölkerung auf sich. Da viele Ärzte jüdischer Herkunft waren, wurden so auch antisemitische Vorbehalte vertieft. Im Gegenzug wurde den Angehörigen unterstellt, sie schürten die schlechte Stimmung und würden die Moral der Soldaten durch „Friedensgerede“ untergraben. So entwickelte sich auch das Lazarett zu einem weiteren Narrativ der zahlreich miteinander verwobenen Dolchstoßlegenden.

Die gut lesbare und überzeugende Studie von Alina Enzensberger wird die Weltkriegsforschung sehr bereichern und weitere neue Forschungsfelder vor allem in vergleichender Perspektive eröffnen.

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